Aus der Reihe "Längst vergessene Kulturgüter": Wer schaut heute noch am Fenster ?
Jugend hat ihre Sprache. Das war so und wird so bleiben. Und diese Sprache ist so angelegt, dass sie möglichst von Personen, sagen wir jenseits von 25, nicht mehr gedeutet werden sollte. Und auf alle Fälle nicht mehr benutzt werden sollte, wenn man sich nicht der Lächerlichkeit Preis geben will.
Was heute "out" ist , dazu sagt man garantiert nicht mehr "out". Und ich gebe zu, dass ich den aktuellen Begriff dazu auch gar nicht mehr kenne ! Aber vor einer sehr großen Anzahl an Jahren hieß das mal "weg vom Fenster" und demzufolge war "am Fenster" wer "in" war und auf der Höhe des Geschehens. Als das aufkam war ich süße 16, dieses neuen Begriffes noch nicht mächtig, und der den Satz sagte, der mich fast erstarren lies "....sag mal, bist du morgen Abend am Fenster....", war mein großer Schwarm. Beflügelt ging ich nach Hause und fieberte dem nächsten Abend entgegen.
Nach Klärung der Frage, wann beginnt ein Abend, öffnete ich pünktlich um 18.00 ihr mein Fenster um den holden Jüngling zu erwarten. Er würde kommen, lässigen Schrittes, winken und ich würde zu ihm eilen.....Mit einigen verzweifelten Unterbrechungen wartete ich also Fenster schauend bis es finster wurde und die Zeit kam, zu der mich meine Mutter nicht mehr freiwillig ziehen lies. Enttäuscht und traurig......der Abend war echt versaut und ich grübelte nach den Gründen, die sehr schwerwiegend sein mussten und ihn aufgehalten hatten.
Der nächste Abend kam und ich ging klopfenden Herzens zum bekannten Treffpunkt der Klicke und da stand er lächelnd, etwas unsicher und fragte:....na, warum warst du gestern Abend nicht hier..? Spätestens da ging mir ein Licht auf und die neue Formulierung für ein Date an bekannter Stelle, nicht mehr aus dem Sinn.
Soweit zur ausführlichen Einleitung mit einer Geschichte, die mir heute beim öffnen des Fensters in den Sinn kam. Am Fenster schauen, bei mir in Thüringen auch "gucken" genannt, völlig aus der Mode gekommen ! Wer macht das noch ? Nicht zum Lüften und nicht zum rufen von Kind, Kegel oder Ehemann. Einfach so !
Du stellst dir vor, du hast freie Zeit. Nein, nicht bei Facebook reinschauen und nicht den Fernseher einschalten. Du öffnest dein Fenster, machst es dir bequem und dann schaust du einfach nur so hinaus.
Wenn du Glück hast, geht ab und an wer vorbei. Du siehst, wie jemand im Garten gegenüber Wäsche aufhängt, wie der Nachbar mal wieder Probleme beim Einparken hat und du betrachtest die Pflanzen im Blumentopf und die Blätter an den Bäumen. Du siehst Tiere, von Hund und Katze bis zu kleinsten Ameisen, und vielleicht kommt dich auch ein Marienkäfer besuchen, der in Thüringen übrigens "Mutschekiebchen" heisst. Da kannst du die Punkte zählen und ihn nach Pommernland fliegen lassen.
Weimar, etwa 1930
Meine Oma Martha, hier auf dem Foto 1.Etage, zweite von rechts und unten steht meine Mutter, war Weltmeisterin im Fenster gucken. Gab ja nichts anderes. Dickes Kissen untergelegt und dann konnte sie Stunden verbringen. Ein längst fälliges Gespräch mit der Nachbarin in der Straße gegenüber und da wurden schon mal Geheimnisse ausgetauscht, die dann keine mehr waren. Und die vorbeispielenden Kinder wurden nach Dingen gefragt, die sie längst schon wissen wollte und zur Belohnung immer mit Süßigkeiten versorgt.
Einfach so am Fenster schauen. Das ist Müßiggang, der ja bekanntlich alles Laster Anfang sein soll. Aber keine Angst, er ist auch der Anfang von innerer Ruhe und Ausgeglichenheit. Da kann man auch gut Gedanken ordnen, so an der frischen Luft und ein bisschen auf Abstand zum Leben da draußen. Wenn es langweilig wird, mach es einfach zu und gehe weiter deinen Geschäften nach. Und wenn's mal wieder hektisch wird, kennst du ja jetzt den Notausgang Notausguck ;)
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